Donnerstag, 20. Januar 2011

Ein Frauen-Schicksal

von Rainer Maria Rilke (1875 – 1926)

So wie der König auf der Jagd ein Glas
ergreift, daraus zu trinken, irgendeines, –
und wie hernach der welcher es besaß
es fortstellt und verwahrt als wär es keines:

so hob vielleicht das Schicksal, durstig auch,
bisweilen Eine an den Mund und trank,
die dann ein kleines Leben, viel zu bang
sie zu zerbrechen, abseits vom Gebrauch

hinstellte in die ängstliche Vitrine,
in welcher seine Kostbarkeiten sind
(oder die Dinge, die für kostbar gelten).

Da stand sie fremd wie eine Fortgeliehne
und wurde einfach alt und wurde blind
und war nicht kostbar und war niemals selten.

Freitag, 31. Dezember 2010

Von morgen ab fängt ein neues Leben an

von Kurt Tucholsky (1890 – 1935)
  • Berlin, den 31. Dezember 1920
  • Berlin, den 31. Dezember 1921
  • Berlin, den 31. Dezember 1922
  • Berlin, den 31. Dezember 1923
  • Berlin, den 31. Dezember 1924
  • Berlin, den 31. Dezember 1925
  • (abends im Bett)
[…] So geht das nicht mehr weiter.
Also von morgen ab hört mir das mit dem Bier bei Tisch auf. Wenn mir Mutter wieder Hamann-Schokolade durch Emmy schicken läßt, gebe ich sie den Kindern. Und Edith darf nicht mehr so fett kochen. Gestern hab ich ihr noch gesagt … Nein, gestern hab ich gefragt, ob noch Stopfleber da ist – das ist wahr.
Aber das hört mir jetzt auf.
[…] Von morgen ab fange ich wieder an, regelmäßig jeden Morgen zu turnen. (‚Wieder’– denke ich deshalb, weil ich mir das schon so oft vorgenommen habe.) Und fünfzig Kniebeugen, wenn ich fleißig trainiere, kann ichs mit Leichtigkeit auf hundert bringen. Ich war doch ein sehr guter Turner, seinerzeit – wenn ich nicht gerade dispensiert war. Na ja, aber heute ist das ja ganz was anderes.
Von morgen ab stehe ich früh auf. Dieses ewige Lange-im-Bett-herum-Geliege – das führt ja zu nichts. Ich stehe einfach um sechs auf, turne ordentlich, dann schön brausen und frottieren – ah – darauf freue ich mich. Ob ich nicht doch anfangen soll, zu reiten …? Na, das ist vielleicht zu teuer – aber ein Stündchen durch den Tiergarten – großartig! Ich werde ins Geschäft gehen! Das härtet ab – in drei Monaten bin ich ein anderer Kerl. Schlank, elegant, gesund – […]
Von morgen ab nehme ich den spanischen Unterricht wieder auf. Jeden Tag abends im Bett ein halbes Stündchen Spanisch – das geht ganz gut und bringt einen auf andere Gedanken. Dann kann ich die Reise nach Südamerika machen – ich werde Edith nichts sagen – das wird eine Überraschung, wenn ich auf dem Dampfer so ganz lässig Spanisch spreche … Als ob sich das von selbst verstände … Hähä …
Übermorgen fängt ein neues Jahr an – ich werde ein anderer Mensch.
Von übermorgen ab wird das alles ganz anders. Also erst mal muß die Bibliothek aufgeräumt werden – das wollte ich schon lange. Aber jetzt gehts los. Von übermorgen ab mache ich nicht mehr diese kleinen Läpperschulden – eigentlich sind das ja gar keine Schulden –, aber ich will das nicht mehr. Und die alten bezahle ich alle ab. Alle. Von übermorgen ab höre ich wieder regelmäßig bildende Vorträge – man tut ja nichts mehr für sich. Ich will wieder jeden Sonntag ins Museum gehen, das kann mir gar nichts schaden. Oder lieber jeden zweiten Sonntag – den anderen Sonntag werden wir Ausflüge machen –, man kennt die Mark überhaupt nicht. Ja, und neben die Waschtoilette kommt mir jetzt endlich die Tube mit Vaseline – das macht die rauhe Haut weich, so oft habe ich das schon gewollt. Übermorgen ist frei – da setze ich mich hin und lerne Rasieren. Diese Abhängigkeit vom Friseur … Außerdem spart man dadurch Geld. Das Geld, was ich mir da spare – davon lege ich eine kleine Kasse an – für die Kinder. Ja. Das ist für die Ausstattung, später. Von übermorgen ab beschäftige ich mich mit Radio – ich werde mir ein Lehrbuch besorgen und mir den Apparat selbst bauen. Die gekauften Apparate … das ist ja nichts. Ja, und wenn ich morgens durch den Tiergarten gehe, da werde ich vorher Karlsbader Salz nehmen – so weit ist es bis zum Geschäft gar nicht …
Man kommt eben zu nichts. Das hört jetzt auf.
Denn die Hauptsache ist bei alledem: man muß sich den Tag richtig einteilen. Ich lege mir ein Büchelchen an, darin schreibe ich alles auf – und dann wird jeden Tag unweigerlich das ganze Programm heruntergearbeitet – unweigerlich. Von morgen ab. Nein, von übermorgen ab. Im nächsten Jahr … Huah – bin ich müde. Aber das wird fein:
Kein Bier, keine Süßigkeiten, turnen, früh aufstehen, Karlsbader Salz, durch den Tiergarten gehn, Spanisch lernen, eine ordentliche Bibliothek, Museum, Vorträge, Vaseline auf den Waschtisch, keine Schulden mehr, Rasieren lernen. Radio basteln – Energie! Hopla! Das wird ein Leben!

Freitag, 24. Dezember 2010

Weihnachten

von Theobald Tiger [i. e. Kurt Tucholsky (1890 – 1935)]

Nikolaus der Gute
kommt mit einer Rute,
greift in seinen vollen Sack –
dir ein Päckchen – mir ein Pack.
Ruth Maria kriegt ein Buch
und ein Baumwolltaschentuch,
Noske einen Ehrensäbel
und ein Buch vom alten Bebel,
sozusagen zur Erheiterung,
zur Gelehrsamkeitserweiterung . . .
Marloh kriegt ein Kaiserbild
und nen blanken Ehrenschild.
Oberst Reinhard kriegt zum Hohn
die gesetzliche Pension . . .
Tante Lo, die, wie ihr wißt,
immer, immer müde ist,
kriegt von mir ein dickes Kissen. –
Und auch hinter die Kulissen
kommt der gute Weihnachtsmann:
Nimmt sich mancher Leute an,
schenkt da einen ganzen Sack
guten alten Kunstgeschmack.
Schenkt der Orska alle Rollen
Wedekinder, kesse Bollen –
(Hosenrollen mag sie nicht:
dabei sieht man nur Gesicht . . . ).
Der kriegt eine Bauerntruhe,
Fräulein Hippel neue Schuhe,
jener hält die liebste Hand –
Und das Land? Und das Land?
Bitt ich dich, so sehr ich kann:
Schenk ihm Ruhe –
lieber Weihnachtsmann!

Mittwoch, 22. Dezember 2010

Gross-Stadt – Weihnachten

von Theobald Tiger [i. e. Kurt Tucholsky (1890 – 1935)]

Nun senkt sich wieder auf die heim'schen Fluren
die Weihenacht! die Weihenacht!
Was die Mamas bepackt nach Hause fuhren,
wir kriegens jetzo freundlich dargebracht.

Der Asphalt glitscht. Kann Emil das gebrauchen?
Die Braut kramt schämig in dem Portemonnaie.
Sie schenkt ihm, teils zum Schmuck und teils zum Rauchen,
den Aschenbecher aus Emalch glasé.

Das Christkind kommt! Wir jungen Leute lauschen
auf einen stillen heiligen Grammophon.
Das Christkind kommt und ist bereit zu tauschen
den Schlips, die Puppe und das Lexikohn,

Und sitzt der wackre Bürger bei den Seinen,
voll Karpfen, still im Stuhl, um halber zehn,
dann ist er mit sich selbst zufrieden und im reinen:
"Ach ja, son Christfest is doch ooch janz scheen!"

Und frohgelaunt spricht er vom 'Weihnachtswetter',
mag es nun regnen oder mag es schnein,
Jovial und schmauchend liest er seine Morgenblätter,
die trächtig sind von süßen Plauderein.

So trifft denn nur auf eitel Glück hienieden
in dieser Residenz Christkindleins Flug?
Mein Gott, sie mimen eben Weihnachtsfrieden . . .
"Wir spielen alle. Wer es weiß, ist klug."

Samstag, 18. Dezember 2010

Liebe vs. Eifersucht

Die Liebe verläßt uns zu früh, die Eifersucht zu spät.Emanuel Wertheimer (1846 – 1916)

Dienstag, 14. Dezember 2010

Erdrückender Fortschritt

Der Fortschritt erdrückt uns mit Bedürfnissen; er macht die Bequemlichkeit von gestern zur Unbequemlichkeit von heute, und so genießen wir ein immer sorgenvolleres Glück.Emanuel Wertheimer (1846 – 1916)

Montag, 13. Dezember 2010

Wahrlich . . .

Auch aus Steinen, die einem in den Weg gelegt werden, kann man Schönes bauen.Johann Wolfgang von Goethe (1749 – 1832)

Muss man?

Man muß alle Schriftsteller zweimal lesen, die guten und die schlechten. Die einen wird man erkennen, die andern entlarven.Karl Kraus (1874 – 1936)

Samstag, 11. Dezember 2010

Es ist unglaublich . . .

Es ist unglaublich, wieviel Geist in der Welt aufgeboten wird, um Dummheiten zu beweisen.Friedrich Hebbel (1813 – 1863)

Freitag, 10. Dezember 2010

Das deutscheste Wort?

Das Wort Wenn ist das deutscheste aller deutschen Worte.Friedrich Hebbel (1813 – 1863)

Donnerstag, 9. Dezember 2010

Genieschwemme

Es gibt heutzutage so viele Genies, daß man recht froh sein soll, wenn einem einmal der Himmel ein Kind beschert, das keines ist.Georg Christoph Lichtenberg (1742 – 1799)

Mittwoch, 8. Dezember 2010

Theorie und Praxis

Es ist nicht genug zu wissen, man muß auch anwenden; es ist nicht genug zu wollen, man muß auch tun.Johann Wolfgang von Goethe (1749 – 1832)

Selbstbetrug

Man wird nie betrogen, man betrügt sich selbst.Johann Wolfgang von Goethe (1749 – 1832)

Dienstag, 7. Dezember 2010

Welcher wohl?

Ich warf allerlei Gedanken im Kopf herum, bis endlich folgender obenhin zu liegen kam.Georg Christoph Lichtenberg (1742 – 1799)

Montag, 6. Dezember 2010

Man ist allein . . .

Man ist allein mit allem, was man liebt.Novalis (1772 – 1801)

Sonntag, 5. Dezember 2010

Es gibt Schriftsteller . . .

Es gibt Schriftsteller, die Unbedingtes trinken wie Wasser; und Bücher, wo selbst die Hunde sich aufs Unendliche beziehen.Friedrich Schlegel (1772 – 1829)

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HELMUT ZEH

† 1. Juli 2005

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